Am 20. November 1930 veröffentlichte der 25-jährige Martin Cohen (1905–1962), Rabbinersohn aus einer Altonaer sefardischen Familie, seinen „Streifzug durch die deutschen Großgemeinden von Hamburg“. Der Artikel erschien im Israelitisches Familienblatt XXXII, Nr. 47 als Bericht in einer Reihe, die über die verschiedenen Großgemeinden in Deutschland in den Jahren 1930 und 1931 veröffentlicht wurde (vgl. Studemund-Halévy/Menny 2013, S. 28) . Der knapp eine Seite füllende, dreispaltig gedruckte Bericht beschreibt wichtige jüdische Gebäude und Orte der Hansestadt wie Synagogen, Beträume, Schulen, Wohnstifte und Logen in der Hamburger Neustadt, auf St. Pauli, in der Hafengegend und dem Grindelviertel und geht auf deren historische und zeitgenössische Besonderheiten ein. Die mit dem Groß- Hamburg-Gesetz der Nationalsozialisten von 1937 hinzugekommenen Stadtteile Altona, Wandsbek und Harburg finden keine Erwähnung. Das Israelitische Familienblatt richtete sich an ein jüdisches Lesepublikum, dem Cohen mit seinem Artikel Aspekte der jüdischen Stadtgeschichte Hamburgs vermitteln wollte.
Der von Martin Cohen verfasste Artikel widmet sich Bauwerken und Orten wie etwa Synagogen, Schulen, Friedhöfen, aber auch Wohnstiften und privaten Wohnhäusern, die für die jüdische Geschichte Hamburgs und die zeitgenössische jüdische Stadtgesellschaft von Bedeutung waren und geht dabei auch auf die jeweiligen (historischen) Besonderheiten ein. Der bei Compact Memory digital zugänglich gemachte Bericht wurde bereits von Irmgard Stein in ihrer einschlägigen Publikation „Jüdische Baudenkmäler in Hamburg“ von 1984 rezipiert. Stein nimmt Cohens Streifzug als Ausgangspunkt für ihre eigene Forschung und leitet mit einem Nachdruck des Textes ein. Ein zweites Mal wurde dieser 2013 in dem von Michael Studemund-Halévy und Anna Menny herausgegebenen Band „Ort und Erinnerung. Ein historischer Streifzug durch das Jüdische Hamburg von 1930“ abgedruckt. Die Herausgeber:innen widmen sich darin der Hamburger Gedächtnislandschaft und dokumentieren die von Cohen erwähnten Orte mit historischen und – soweit vorhanden – aktuellen Fotografien. Zudem zeichnen sie die Familiengeschichte von Cohen nach. Laut Studemund-Halévy und Menny sind die von Cohen beschriebenen Orte für ihn Belege für den „hohen Verbürgerlichungsgrad der Hamburg Juden […] und sichtbarer Ausweis ihres überproportionalen Anteils an der städtischen Mittel- und Oberschicht […], gleichzeitig aber auch Beleg für die finanziellen Nöte der jüdischen Unterschicht […].“ (Studemund- Halévy/Menny 2013, S. 9) Charakteristika des Berichts sind Irmgard Stein zufolge Cohens „Charme und Humor“ (Stein 1984, S. 7) und seine Schilderung der stadt- und gemeindegeschichtliche[n] Aspekte. So werde, „die Situation jener Jahre lebendig, in denen die Hamburger Juden einen wichtigen und unverwechselbaren Rang in der Stadtrepublik Stadtrepublik einnahmen“ (Stein 1984, S. 7).Cohens Ausführungen lesen sich als selbstbewusste Vermittlung eines jüdischen Kulturerbes an und Selbstvergewisserung gegenüber einer jüdischen Leserschaft zu einer Zeit, in der der gesellschaftliche Antisemitismus spürbar zugenommen hatte.
Über das Grindelviertel, dem zur Entstehungszeit des Textes wichtigsten Stadtteil für Hamburger Juden und Jüdinnen, schreibt Cohen etwa:
Mittelpunkt des neuen jüdischen Zentrums ist die Synagoge der Deutsch-Israelitischen Gemeinde am Bornplatz. Ein imposantes Bauwerk, das in dem zu Beginn des Jahrhunderts üblich gewesenen Synagogenbaustile gehalten ist. An sie schließt sich das schöne Gebäude der Talmud-Thora-Realschule, der ältesten jüdischen höheren Lehranstalt Deutschlands. Der Ausbau dieser Anstalt zur Oberrealschule wird in kurzer Zeit beendet sein. (Cohen 1930)
Die jüdischen Gebäude und Orte werden von Cohen
nicht lediglich aufgelistet, sondern beim Gehen durch den Stadtraum an ihren jeweiligen Plätzen verortet, wodurch
gewissermaßen ein
alternativer, ein jüdischer Stadtplan entsteht. Martin
Cohen nimmt die Leser:innen des
Israelitischen
Familienblattes mit auf seinen Streifzug: „Um vom Hauptbahnhof aus ins
alte jüdische Zentrum zu gelangen, geht man durch die
Mönckebergstraße über den
Rathausmarkt zum Mönkedamm. Schon
auf diesem Wege findet
man jüdische Reminiszenzen, die der Erwähnung bedürfen.“ (Cohen
1930)
Dieses Zitat deutet auf zwei wichtige Merkmale des Textes hin; auf die
Hinwendung Cohens
zur jüdischen Geschichte der Hansestadt und auf das
Durchlaufen des Stadtraumes. Ein weiterer Beleg dafür ist das folgende Zitat: Auf unserem
Wege in das ehemalige jüdische Zentrum finden wir rechts von der
Mönckebergstraße die
Raboisen, wo sich von 1793 bis
1808 die Würtzersche
Schule für arme jüdische Knaben befunden hat. Eine Gründung
der Freimaurer-Loge, die es sich zur Aufgabe gestellt hatte, unter den Juden für
Aufklärung zu sorgen. Wir gehen über den Rathausmarkt,
an der Börse vorbei, wo, wie Heinrich Heine sagt, „unsere Väter so redlich als möglich gehandelt
und gewandelt“ und wo „Bankos Geist seinen Spuk getrieben“. Dann kommen wir zum Mönkedamm,
wo um 1610 die reichen portugiesischen Juden
mehrere Häuser besaßen. […] Zu Anfang des 17.
Jahrhunderts wohnten die Portugiesen am Rödingsmarkt, Mühlenbrücke, Bohnenstraße und
vor dem Dammtor und
Bleichen, jedoch wurde
den Juden später die Niederlassung in diesen Straßen beschränkt. (Cohen
1930)
Cohen widmet sich nicht nur jüdischen Sakral-
oder Gemeindebauten, sondern auch Privathäusern, wie das obige Beispiel zeigt.
Seine Ausführungen beschreiben das Nebeneinander von nichtjüdischer und
jüdischer Stadtgesellschaft, die historischen Vorgaben und Beschränkungen für
die Niederlassung jüdischer Menschen in Hamburg sowie die
verschiedenen Zentren der jüdischen Bevölkerung im historischen Wandel.
Zum Zeitpunkt der Entstehung von Cohens Artikel erfreuten sich feuilletonistische Beschreibungen der (Groß-)Stadt einiger Beliebtheit. Veröffentlichungen von Walter Benjamin, Erich Kästner, Hans Fallada oder Irmgard Keun sind prominente Beispiele für den Eingang der Kulturpraxis flânerie, dem Spazierengehen in der Stadt, in das Medium der Literatur. Franz Hessels „Ein Flaneur in Berlin“ beziehungsweise dessen Besprechung durch Walter Benjamin im Jahr 1929 machte den Flaneur im deutschsprachigen Raum populär. Der „Funktionsform der literarischen Flanerie“ (Thiemann 2019, S. 19) wird zugesprochen, dass sie sich besonders dafür eigne, „historische Darstellungen der Großstadt zu inszenieren“ und „Stadtgeschichte erzählbar“ (Thiemann 2019, S. 20) zu machen. Als ein auf diese Weise „memorierender Flaneur“ (Severin 1988, S. 4) kann auch Cohen gelesen werden. Cohen entwirft durch seinen Streifzug eine Kartierung des städtebaulichen jüdischen Erbes und zeigt dabei Traditionen und Brüche auf. Andere typische Eindrücke der modernen Metropole, die ein Flaneur en passant sammelt und beschreibt sowie das Atmosphärische der Beobachtungen, finden bei Cohen keine Erwähnung. Anders verhält es sich bei einem später entstandenen Beispiel für die Behandlung jüdischer Bauwerke und Orte in Hamburg, dessen Verfasser Ruben Maleachi ist. Sein Bericht „Die Synagogen in Hamburg“, der in den 1950er Jahren entstand und zwischen 1978 und 1980 als Fortsetzung in den „Mitteilungen des Verbandes Ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel “ erschienen ist, widmet sich denselben Gebäuden und Orten wie Cohens Text – und nicht nur Synagogen, wie der Titel vermuten ließe. Anders als Cohen lässt Maleachi vielerorts persönliche Erinnerungen und Anekdoten über Gottesdienstbesuche und Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde aus seiner Jugendzeit vor dem Ersten Weltkrieg in den Bericht einfließen. Maleachi beschreibt retrospektiv und mit dem Wissen über die Schoah „einen Querschnitt durch das jüdische Leben der Hamburger Gemeinde in den [19]20er Jahren, also dem letzten Jahrzehnt vor dem Untergang des deutschen Judentums“. (Maleachi 1978, S. 26)
Hinsichtlich der Frage, welchen Beitrag der Text von Cohen für die Aushandlung des jüdischen Kulturerbes spielt, sei zum einen auf die Vielfalt des beschriebenen baulichen Erbes und damit verbunden auf die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der jüdischen Stadtgesellschaft Hamburgs verwiesen, die Cohens Text für die Nachwelt und heutige Leser:innen dokumentiert. Ein Beispiel sind die zahlreichen Synagogen und Bethäuser Hamburgs, die die religiöse und rituelle Vielstimmigkeit innerhalb der jüdischen Einheitsgemeinde verdeutlicht: In der Marcusstraße befindet sich die 1855 errichtete Synagoge der Portugiesisch Jüdischen Gemeinde [i. O. gesperrt], die durch ihren orientalischen Charakter in Stil und Farben wie eine morgenländische Pflanze auf abendländischem Boden einsam im Verborgenen blüht. Von historischer Bedeutung ist das 1843 errichtete Gotteshaus des Israelitischen Tempelverbandes [i. O. gesperrt], die einzige Synagoge Hamburgs , in der sich eine Orgel befindet. Der Tempel ist durch die Männer, die an ihm gewirkt, wie durch die Bewegung, die er hervorgerufen, ein Markstein in der Geschichte des modernen Judentums. (Cohen 1930) Dank dieser und anderer Beschreibungen kann Cohens Text heute Ausgangspunkt für eine historische Spurensuche in der Stadt sein, die – wie im Falle der Synagoge in der Marcusstraße und des Tempels in der Poolstraße – heute oftmals nicht mehr vorhandene oder nicht mehr als jüdisch identifizierbare Gebäude relokalisiert oder zumindest auf die entstandenen Leerstellen im kulturellen Gedächtnis der Stadt aufmerksam macht. Aus heutiger Sicht sind es die Erinnerungsorte, die durch Cohens Text wieder im Gedächtnis der Stadtgemeinschaft bewusstgemacht und in der Stadtlandschaft verankert werden. Zum anderen gibt der Artikel interessante Einblicke in eine Perspektive auf den historischen Umgang mit jüdischem Erbe, wie das folgende Zitat verdeutlicht: Gehen wir jetzt durch diese Gegend [Hamburg Neustadt], so finden wir nur noch spärliche Reste des einst hier blühenden jüdischen Lebens. Was der Brand verschont hatte, ist der Verständnislosigkeit des 19. Jahrhunderts gegenüber kulturhistorischen Denkmälern zum Opfer gefallen. Vor allem die herrliche Synagoge [i. O. gesperrt] der deutschen Juden in der Elbstraße [i. O. gesperrt], die 1788 von Sonnin, dem Erbauer der Michaeliskirche, errichtet worden war. (Cohen 1930) Die kritische Sicht Cohens auf den Umgang mit bzw. die Vernachlässigung von jüdischem Erbe der Stadt, konkret, von der sich im Besitz des Deutsch-Israelitischen Synagogenverbands befindenden Synagoge in der Elbstraße, mutet geradezu aktuell an. Cohens Bericht im „Israelitischen Familienblatt“ richtete sich an eine jüdische Leserschaft, die nicht mit allen Aspekten der Gemeinde- und Stadtgeschichte vertraut war, worauf dieses Zitat und die vielen weiteren historischen Bezüge in seinem Artikel schließen lassen. Diese verdeutlichen den edukativen Ansatz des Textes, dem es um die selbstbewusste Vermittlung von Wissen über die jüdische Geschichte und die Dokumentation dieses Erbes für zukünftige Generationen zu gehen schien. Bereits für Cohen stellten die erwähnten Orte teilweise nur mehr Erinnerungsorte dar, wie etwa „die herrliche Synagoge der deutschen Juden in der Elbstraße“, die jedoch nicht in Vergessenheit geraten sollten.
Die Beschreibungen jüdischer Orte innerhalb einer nichtjüdischen
Mehrheitsgesellschaft verdeutlicht nach Studemund-Halévy und
Menny „eine
Geschichte von prekärer Koexistenz und komplexen Beziehungen, die sowohl die
(räumliche) Ab- und Ausgrenzung, als auch das tägliche Miteinander
widerspiegeln.“ (Studemund-Halevy/Menny
2013, S. 10) Der Beitrag des Textes zur Aushandlung des jüdischen
Kulturerbes liegt einerseits in genau diesem Aufzeigen einer jüdischen
Topografie Hamburgs und den komplexen räumlichen Beziehungen zu der
nichtjüdischen Umgebung und andererseits im Thematisieren innerjüdischer
Positionen zum kulturellen Erbe Anfang der 1930er-Jahre. Der Text gibt innerjüdisches Wissen um die eigene
Geschichte bzw. Stadtgeschichte an ein jüdisches Lesepublikum weiter. Die
Konstruktion und Eigenwahrnehmung von jüdischem Kulturerbe rückt somit als
Anliegen des Beitrags in den Vordergrund.
Vor dem Hintergrund der heutigen Stadtlandschaft zeigt der Text vor allem auf,
wie viel jüdisches Kulturerbe zerstört worden oder in Vergessenheit geraten ist.
Bei Cohen kann von einem „Flanieren im Geiste“
gesprochen werden, das vor dem inneren Auge der Leser:innen Orte und ein
historisches Bewusstsein entstehen lässt und diese in eine mentale Landkarte
einschreibt.
Die Orte fungieren als Projektionsflächen und Medien der Erinnerung. Für
heutige Streifzüge durch die Stadt und natürlich auch für Forschungsvorhaben und (digitale)
Projekte bietet Cohens Artikel relevante
Quellen. Ein digitales Beispiel ist der interaktive Stadtplan des IGdJ, mit dem
sich Leerstellen im baulichen kulturellen Erbe zumindest aufzeigen und fehlendes
Hintergrundwissen bereitstellen lässt.
Sonja Dickow-Rotter ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am IGdJ und war zunächst als Projektmitarbeiterin der Online-Quellenedition Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte im Arbeitsbereich Digitales tätig. In diesem Zusammenhang konzipierte und setzte sie auch Online-Ausstellungen sowie andere digitale Formate um. Sonja Dickow-Rotter studierte an der Universität Hamburg Literaturwissenschaft und Kulturanthropologie. Nach ihrem Masterabschluss arbeitete sie unter anderem als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Exilliteratur. Sonja Dickow-Rotter promovierte über literarische Konfigurationen des Hauses und Zuhauses in jüdischen Literaturen der Gegenwart. Ihre komparatistische Dissertation, die 2021 mit dem Joseph-Carlebach-Preis der Universität Hamburg ausgezeichnet wurde, entstand an der Universität Hamburg sowie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sonja Dickow-Rotter ist Alumna der Promotionsförderung des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks.
Sonja Dickow-Rotter, „jüdische Reminiszenzen, die der Erwähnung bedürfen“ – Martin Cohens „Ein Streifzug durch die deutschen Großgemeinden von Hamburg“, Israelitisches Familienblatt 32 (1930), Nr. 47, vom 20.11.1930, in: Jüdische Text-Architekturen. <https://juedische-text-architekturen.online/beitrag/jta:article-1> [23.02.2025].