Bei „Utopia“ handelt es sich um eine Kurzgeschichte, deren Verfasser:in, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr unbekannt sind. Wahrscheinlich wurde die Erzählung erstmals 1925 – vermutlich auf Deutsch – gedruckt. Sie wurde genutzt, um für die von Siegfried Lehmann geplante Gründung einer landwirtschaftlichen Jugendsiedlung in Palästina zu werben. Der Text zählt mit seiner pädagogischen, auf der zionistischen Idee fußenden Beschreibung der Erziehung und Ausbildung junger Einwanderer in Palästina zum jüdischen Kulturerbe. „Utopia“ rückt außerdem in der Zeit des vorstaatlichen Israels eine landwirtschaftliche Siedlung, ein Dorf in den Fokus. Der Text betont damit die Bedeutung des ländlichen Raums der zwar ideologisch von großem (zionistischen) Interesse war, aber in seiner tatsächlichen Gestaltung zu dieser Zeit eher selten beschrieben wurde. Die von Lehmann geplante Siedlung – Ben Schemen – wurde schließlich 1927 gegründet. Vier Jahre nach seinem Tod erschien 1962 eine hebräische Sammlung von ihm verfasster Texte. Obwohl die Herausgeber „Utopia“ in „Idee und Verwirklichung“ aufnahmen, darf Lehmanns Urheberschaft angezweifelt werden: Der Stil der Erzählung weicht deutlich von anderen, im Vergleichszeitraum von ihm verfassten Texten ab. Ein etwa zur gleichen Zeit wie „Utopia“ entstandener Tagebucheintrag mit einer Skizze der geplanten Jugendsiedlung kann eindeutig Lehmann zugeordnet werden: „The Idea and its Realization“, die englische Übersetzung der Textsammlung, wurde schließlich 1978 anlässlich des 20. Todestages Lehmanns als Privatdruck herausgegeben. „Utopia“ beschreibt den Besuch einer Gruppe Erwachsener in einem palästinensischen Jugenddorf. Die Besucher:innen lernen die Anlage des Dorfes mit seinen Wohn-, Ausbildungs- und Werkstätten kennen. Die Gäste nehmen an einem Gottesdienst, dem Schulunterricht und einem Fest teil. In Gesprächen erfahren sie viel über das Gemeinschaftsleben und die Herkunft der jungen Dorfbewohner:innen. Von bereits lang im Land lebenden jüdischen Siedler:innen hören die Gäste später, dass die Anwesenheit der Kinder und Jugendlichen die Siedler selbst motiviert und ermutigt. Nach ihrem Besuch muss die Gruppe nach Europa zurückkehren. „Utopia“ schließt mit dem Appell an die Leser:innen, die Realisierung eines Jugenddorfes wie des beschriebenen zu unterstützen.
„Utopia“ reiht sich ein in eine Vielzahl von Publikationen und Aktionen, mit denen Siegfried Lehmann und seine Unterstützer:innen um Unterstützung bei der Realisierung eines landwirtschaftlichen Kinder- und Jugenddorfes in Palästina warben. Siegfried Lehmann, 1892 in Berlin geboren, kam aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie, war eng vernetzt mit weiteren Protagonist:innen der Jüdischen Jugendbewegung und Mitglied der jüdisch-sozialistischen Partei Hapoël-Hazair. 1916 hatten er und Gleichgesinnte im Berliner Scheunenviertel mit dem Jüdischen Volksheim eine Einrichtung der jüdischen Gemeinwesenarbeit gegründet, die schnell zu einer Begegnungsstätte zwischen West- und Ostjuden avancierte und die sowohl für ihre Bildungs- als auch ihre Kulturarbeit bekannt wurde. Im Jahr 1921 übertrug der Jüdische Nationalrat Litauens, dessen Mitglieder die im Jüdischen Volksheim und von Lehmann geleistete Arbeit sehr schätzten, Lehmann die Verantwortung für die jüdische Waisenfürsorge in Litauen. Bei den Kindern und Jugendlichen, um die Lehmann sich in den folgenden Jahren kümmerte, handelte es sich zumeist um nach Kriegsende aus Russland ins Land zurückgekehrte junge Menschen, die entweder im Krieg ihre Eltern verloren hatten oder deren Eltern nicht in der Lage waren, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Viele dieser Kinder und Jugendlichen zogen hungernd und bettelnd durch das Land. Manche begingen Straftaten, um ihr Überleben zu sichern. Sowohl aus Gründen der jüdischen Sozialethik, als auch um Konflikte mit der nichtjüdischen Bevölkerung zu vermeiden, hatte sich der Jüdische Nationalrat für eine strukturierte und fachgerechte Betreuung und Versorgung dieser Kinder und Jugendlichen entschieden und Lehmann die Leitung der Arbeit übertragen. Zur zentralen Einrichtung und dem Herzstück der Arbeit entwickelte sich schnell das Kinderhaus, das er in der provisorischen Hauptstadt Kowno (heute Kaunas) gründete: Mit Plätzen für 200 Kinder zwischen null und 18 Jahren, einer großen medizinischen Abteilung und einem Büro für Kinderfürsorge war die Einrichtung die größte Waisenanstalt Osteuropas. Das der pädagogischen Arbeit zugrundeliegende reformpädagogische Konzept und umfassende Werbearbeit sorgten dafür, dass Lehmanns Arbeit bald über die Grenzen Litauens hinweg und vor allem in Deutschland wahrgenommen wurde Das Kinderhaus galt über Jahre hinweg als Einrichtung, in der „tief verwahrloste Kinder zu Menschen besten Schlages erzogen [wurden]“.
Als Reaktion auf eine persönliche Krise, ausgelöst durch Trennung und Scheidung von seiner ersten Ehefrau, der hohen Arbeitsbelastung und dem aufkeimenden Nationalismus in Litauen, beschloss Lehmann Anfang 1925, gemeinsam mit einer Gruppe älterer Jugendlicher und mehreren Mitarbeiter:innen Alija zu machen. In Palästina wollte Lehmann nicht mehr als Kinderarzt arbeiten, sondern eine landwirtschaftliche Kinder- und Jugendsiedlung gründen und diese selbst leiten. Um die Gründung, zu der es schließlich 1927 kam, finanzieren zu können, mussten Förderer gewonnen werden. Dazu nutzten Lehmann und seine Unterstützer:innen verschiedene Möglichkeiten: Sie hielten – vor allem vor Frauen- und Studentengruppen sowie zionistischen Gruppen – Vorträge, publizierten eine illustrierte Broschüre, drehten einen (heute nicht mehr erhaltenen Film) und nutzten ihre persönlichen Kontakte und Netzwerke. Der Kreis um Lehmann gründete außerdem mit der „Jüdischen Waisenhilfe e. V.“ einen Unterstützerverein und etablierte ein Patenschaftssystem: Mit einer monatlichen Zuwendung in Höhe von 40 Reichsmark wurden Unterbringung, Verpflegung und Ausbildung eines osteuropäischen Waisenkindes in Palästina finanziert. Zu dem Material, mit dem potentielle Unterstützer:innen angesprochen wurden, gehörte auch die Kurzgeschichte „Utopia“.
„Utopia“ beschreibt – wenig überraschend – eine ideale Siedlung der jüdischen Jugend in Palästina. Stilmittel sind kurze Sätze, wörtliche Rede und eine ausgeprägte Symbolik (das Königreich auf dem Berg, die zahlreichen Sterne, die Anordnung der Wohnhäuser im Halbkreis um die Schule usw.). Texte, die eindeutig Siegfried Lehmann zugeordnet werden können, weisen diese Merkmale nicht auf. Sie sind in der Regel stark ideologisch geprägt. Oft konfrontiert Lehmann seine Leser:innen zudem mit hohen moralischen Erwartungen und Ansprüchen. Detailreiche Schilderungen von Wohnsituationen, Festen, Schulunterricht u. ä. finden sich bei ihm nicht. Erwachsene spielen in der beschriebenen Kommune kaum eine Rolle. Selbst die Besucher:innen betreten das Dorf erst nach einer ausdrücklichen Einladung, nach dem Besuch müssen sie es wieder verlassen und in ihr gewohntes Leben zurückkehren. Ihre Aufgabe ist es nun, in Europa bekannt zu machen, was sie in Palästina erlebt haben: Dass Kinder und Jugendliche im ländlichen Palästina in einer friedvollen und produktiven Gemeinschaft zusammen leben, lernen und arbeiten. Dass die jungen Bewohner:innen selbst auf ihre schwierige Vergangenheit verweisen und den langen Prozess, der nötig gewesen ist, um als Gemeinschaft im Jugenddorf zu leben, ist ein Hinweis auf die Kinder, für die die Kinder- und Jugendsiedlung gegründet werden sollte: die Waisen und Sozialwaisen aus Kowno.
Die Lage des Dorfes verdeutlichte seine Leuchtturmfunktion: Der:die Verfasser:in beschrieb das Dorf als neues Königreich, das hoch oben auf einem Berg liegend, die Dörfer des Tals überragte. Auffällig ist, dass hier ein Bild aus dem Matthäus-Evangelium (Matth. 5, 14) benutzt wurde. Aber auch in anderer Hinsicht war die Lage des Dorfes auf dem Berg bedeutsam: Im biblischen Kontext waren Berge sowohl in der jüdischen als auch der christlichen Überlieferung Orte der Gottesoffenbarung bzw. der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Das Dorf oben auf dem Berg – die Jugendsiedlung – unterschied sich deutlich von den Dörfern im Tal – hier waren die jüdischen Siedlungen früherer Einwanderer gemeint: Die Jungen waren nicht nur ein Bespiel für gelungene Erziehung – ein für potentielle Geldgeber:innen wichtiger Aspekt. Sie waren auch bedeutender Teil des jüdischen Aufbauwerkes in Palästina und eine Ermutigung für bereits im Land lebende Siedler:innen. Letztere hatten Mitte der 1920er-Jahre, gerade vor dem Hintergrund, dass sich nur wenige Zionist:innen aus Mittel- und Westeuropa für eine Alija entschieden, Ermutigung und die Aussicht auf Unterstützung durch junge Zuwanderer:innen dringend nötig.
Die Familienhäuser, in denen die Kinder und Jugendlichen mit einem:einer erwachsenem:n Betreuer:in zusammenwohnen, sind im Halbkreis um das Gebäude angeordnet, dessen Bedeutung schon allein durch diese zentrale Lage deutlich wird: die Schule. Auf die Besucher:innen wirkt sie ehrfurchtsgebietend. Mit denen als „einladend“ und „heimelig“ wahrgenommenen Familienhäusern hat sie nichts gemein – ein Hinweis darauf, dass Wohnen und Lernen für den:die Verfasser:in zwei völlig verschiedene Angelegenheiten sind, die unterschiedliche Zielsetzungen haben. Die zwei Flügel des Schulgebäudes mit den ihnen zugeordneten Arbeitsschwerpunkten repräsentieren zwei für das jüdische Siedlungswerk in Palästina bedeutsame Bereiche: Ein Flügel – hell, offen, durch große Fenster in Bezug zur Außenwelt – ist der Ort für naturwissenschaftliche (Forschungs-)Arbeit, im zweiten Flügel herrscht eine konzentrierte, fast kontemplative Stimmung. Er ist der Beschäftigung mit neuer und alter jüdischer Literatur – und damit auch den Gebieten Religion und Kultur – vorbehalten. Die Schule des Dorfes ist demnach der Ort, an dem Gegensätzliches seinen Platz findet und in der alles so zusammengeführt wird, dass für die jungen Bewohner:innen des Dorfes und die Siedler:innen in Eretz Israel der größtmögliche Nutzen daraus erwächst: Naturwissenschaft und Kultur- bzw. Geisteswissenschaft ergänzen sich genauso wie lautes und konzentriertes, leises Lernen. Die Interaktion mit der Umwelt findet genauso ihren Raum wie die Abgeschiedenheit. Forschen und Lernen dienen – z. B. durch das Anlegen naturwissenschaftlicher Sammlungen – sowohl dem Wissenszuwachs vieler wie auch der individuellen Bildung.
Dass die Kinder- und Jugendlichen in „Utopia“ nicht in einer städtischen Gemeinschaft, sondern auf dem Land zusammenleben, verweist auf das zionistische Prinzip, nach dem der Boden Eretz Israels nicht mit Gewalt, sondern mit Spaten und Pflug, d. h. durch landwirtschaftliche Arbeit, die eben nur außerhalb von Städten geleistet werden kann, erobert werden soll. In diese Vision floss die seit Jahrzehnten in zionistischen Kreisen virulente Idee der Berufsumschichtung ein. Ihr zufolge waren für die Ansiedlung in Palästina Qualifikationen nötig, die bei erwerbstätigen Jüdinnen und Juden eher unterrepräsentiert, aber für den Erfolg des Projekts dringend nötig waren. Berufsumschichtung zielte somit darauf ab, junge Juden und Jüdinnen in landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen auszubilden. Handel, aber auch akademische Karrieren galten in diesem Zusammenhang als weniger bedeutsam und erstrebenswert. „Utopia“ erwähnte eine Reihe von Professionen, aber auch Anlagen der handwerklichen bzw. landwirtschaftlichen Arbeit: u. a. Feldarbeiter, Gärtner, Hufschmiede, Schweißer, Weber, Schneider sowie einen Bauernhof mit Kuhställen, Feldern, Weinbergen und Obstgärten. In „Utopia“ heißt es, dass jede Handwerksgruppe nicht nur einen eigenen Arbeitsplatz hat, sondern auch eine eigene Fahne, eigene Abzeichen und eigene Lieder. In dieser Beschreibung spiegeln sich Elemente der Jüdischen Jugendbewegung und ihres bündischen Lebens wider.
„Utopia“ verdient besondere Aufmerksamkeit, weil der Text tatsächlich viele der später realisierten Einrichtungen beschreibt. Zwar spielten Fahne, Abzeichen und Lieder der Jugendbünde, zumindest im Zusammenhang mit der handwerklichen Arbeit, im späteren Ben Schemen keine Rolle. Auch einen gemeinsamen, in einer großen Halle gefeierten Morgengottesdienst, wie er im Text erwähnt wurde, gab es nicht. (Dass der Raum für den Gottesdienst in „Utopia“ eher an eine multifunktional genutzte Schulaula erinnert als an eine Synagoge, sei hier nur kurz erwähnt.) Die Familienhäuser mit Gruppen bis 25 Kindern, Hausvater bzw. -mutter aber wurden tatsächlich errichtet und zum neuen Lebensmittelpunkt osteuropäischer Waisen. Für sie, aber auch die nach 1933 vor allem aus Mitteleuropa kommenden Kinder und Jugendlichen, wurde Ben Schemen zum Zufluchtsort. Der Ausbildungsschwerpunkt im Kinder- und Jugenddorf lag auf der landwirtschaftlichen Arbeit, allerdings wurden auch mehrere andere der in „Utopia“ erwähnten Arbeitsgelegenheiten eingerichtet – z. B. Hauswirtschafts- und Säuglingspflegekurse für Mädchen sowie eine Schäferei für jüngere Schüler:innen. Gerade in den ersten Jahren wurde großer Wert auf reformpädagogische Arbeit gelegt, d. h. die Schüler:innen hatten großen Einfluss auf Form und Inhalt des Schulunterrichts sowie die Gestaltung des Zusammenlebens in den jeweiligen Gruppen. Wenn auch nicht hoch auf einem Berg gelegen, galt Ben Schemen dennoch als Leuchtturmprojekt der jüdischen Ausbildungsstätten im vorstaatlichen Israel. Seine Realisierung verdankt es nicht nur aber auch der von Lehmann und seinen Mitstreiter:innen aufwendig inszenierten Werbeaktionen, deren Bestandteil u. a. „Utopia“ war. Um ein vergleichbares, später allerdings nicht realisiertes Projekt handelte es sich bei der Gartenstadt, deren Gründung anlässlich des 70. Geburtstages von Max Nordau in zionistischen Kreisen angeregt wurde. [Link Mirkos Text] Mit der in der entsprechenden Werbeschrift veröffentlichten Definition, nach der eine Gartenstadt eine „soziale, wenn man will sozialistische, mit dem modernsten Ausdruck: eine `gemeinwirtschaftliche“ Form des städtischen Zusammenhauses“ sei, hätte sich Siegfried Lehmann sicher anfreunden können.
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Beate Lehmann, geb. 1964, ist Promovendin der TU Braunschweig im Fachbereich Erziehungswissenschaften, Mitglied des Leitungsteams des Arbeitskreises Jüdische Wohlfahrt und stellvertretende Vorsitzende des Vereins Judaica in Meimbressen e. V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Leben und Werk Siegfried Lehmanns, die Geschichte der jüdischen Sozialarbeit und Biographien jüdischer Akteur:innen der Sozialen Arbeit.
Beate Lehmann, Ein zionistisches und pädagogisches Leuchtturmprojekt. Siegfried Lehmann und das Waisenhaus in Kowno, in: Jüdische Text-Architekturen, 10.01.2025. <https://juedische-text-architekturen.online/beitrag/jta:article-7> [23.02.2025].