Wohnverhältnisse und Heimarbeit in Wien im frühen 20. Jahrhundert

Susanne Korbel

Quellenbeschreibung

Im Wiener Verlag „Arbeit und Wirtschaft“ erschien 1928 im Auftrag der Kammer für Arbeiter und Angestellte die sozialwissenschaftliche Studie über die „Wohn- und Lebensverhältnisse der Wiener Heimarbeiter“, verfasst von der Aktivistin, Redakteurin, Soziologin und Sozialdemokratin Käthe Leichter (geboren Käthe Marianne Katharina Pick 1895, ermordet 1942). Die Studie basiert auf rund 4.000 im März 1927, „zur Zeit des stärksten Anwachsens der Heimarbeit“ (S. 7), versandten Fragebögen. Von den 4.000 Fragebögen wurden 1.500 ausgefüllt retourniert, davon wiederum 500 als unbrauchbar definiert. Leichter interpretierte, wertete statistisch aus und bereitete die Ergebnisse didaktisch in Schautafeln auf. Damit legte sie die bisher größte derartige Studie vor  In einem aktuell laufenden Forschungsprojekt werden die Bedingtheit, die Folgen und die Qualität derartiger jüdisch-nichtjüdischer Begegnungen in den "privaten" Räumen in Budapest und Wien, den beiden Residenzstädten der Habsburgermonarchie, erforscht. FWF ESP 120: Entanglements of Jews and non-Jews in Private Spaces, Budapest and Wien 1880–1930.. Der Gesamtumfang umfasst 145 Seiten, die nach thematischen Aspekten und hinsichtlich der Verhältnisse in der Heimarbeit in unterschiedlichen Berufszweigen (Kleiderkonfektion, chemische Industrie, Papierkonvektion u. s. w.) gliedert sind. In der Einleitung geht Leichter auf den Studienaufbau und methodologische Mängel ein, wie etwa den Umstand, dass Kinderarbeit abgeschwächt, während andere Missstände übertrieben dargestellt wurden. Neben vielen wichtigen Erkenntnissen zieht Leichter den Schluss, dass Heimarbeit in Wien „ein Problem der Frauenarbeit“ (S. 5) war. Der gewählte und im Folgenden näher dargestellte Auszug (vier Seiten) umfasst die Diskussion der Wohnverhältnisse der Heimarbeiter:innen im ersten Teil der Studie (S. 43 bis 46).

  • Susanne Korbel

Um 1900 prägte ein enormes Bevölkerungswachstum Wien. Zwischen 1880 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der habsburgischen Residenzstadt von 880.000 auf 1,6 Millionen Menschen. Damit einhergehend war die Bevölkerung von einer enormen Wohnungsknappheit betroffen. Zu den wichtigsten Faktoren, die das tägliche Leben beeinflussten, gehörte die Privatsphäre in Wohnräumen, die weniger auf das Familienleben beschränkt war, als wir es uns heute vorstellen können: Ein Fünftel der Bevölkerung konnte es sich nicht leisten, eine Wohnung oder gar ein eigenes Zimmer zu mieten. Diese zwanzig Prozent der Wiener Bevölkerung bezahlten für ein Bett, in dem sie ein paar Stunden schlafen (oder arbeiten) konnten, bevor der:die nächste sogenannte Bettgeher:in dieses beziehen würde. Zweiunddreißig Prozent der verfügbaren Wohnungen beherbergten Bettgeher:innen.

Dieses „Wohnungselend“, wie die Wohnungssituation im zeitgenössischen Diskurs genannt wurde, überlagerte sich mit dem Phänomen der Heimarbeit. Heimarbeit meinte die Produktion von Fabrikwaren von Einzelpersonen in losen und freiberuflich zusammenarbeitenden Produktionsgruppen in Privatwohnungen/Haushalten. Diese Produktionsform sollte die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts prägen und stellte die Politik zunehmend vor Herausforderungen.

Insbesondere waren Wohnungen, die auch als Produktionsstätten dienten, von engem Wohnraum, überdurchschnittlicher Dichte an Menschen in diesen, und schlechten hygienischen Bedingungen betroffen. Während auch in anderen europäischen Städten eine relativ dichte Wohnsituation vorzufinden war, war das zahlenmäßige Ausmaß in Wien einzigartig – sowohl was die Anzahl der betroffenen Haushalte als auch die durchschnittliche Anzahl der in einem gemeinsamen Raum lebenden Personen betraf.

Diese Situation brachte eine Vielzahl an Möglichkeiten für jüdisch-nichtjüdische Begegnungen im „Privaten“. Nicht in ausreichender Zahl vorhandene kleine Wohnungen, die wirtschaftlich schwierige Situation und die Notwendigkeit Wohnraum zu haben brachte die jüdischen und nichtjüdischen Stadtbewohner:innen in vermeintlichen Privaträumen in Kontakt miteinander. Außerfamiliäre Kontakte gab es eben nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch in Wohnungen: Jüdinnen und Juden lebten in Wohnungen gemeinsam mit Nichtjüdinnen und Nichtjuden, sie produzierten in privaten Gruppen Fabrikwaren, sie mieteten Betten und begegneten einander in Küchen, in den Schlafräumen und anderen Bereichen in Wohnhäusern.

Die wissenschaftliche und sozialdemokratische Pionierin Käthe Leichter


Diesen krassen Lebensumständen verschrieb sich die aktivistisch-engagierte Politikerin, Redakteurin, Sozialdemokratin und Soziologin Käthe Leichter(1895–1942). In ihrem Verständnis als Sozialdemokratin und ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Sozialisation in der Sozialwissenschaft nahm sie sich der Erforschung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der unteren Klassen, und dabei insbesondere der Frauen an. Mit ihrer Forschungstätigkeit wie auch ihrem Engagement im Aufbau eines neu geschaffenen Referats für Frauenarbeit in der Wiener Arbeiterkammer wollte sie eine Besserstellung der beruflichen und privaten Situation der Frauen als Erwerbstätige und Mütter bewirken.

Käthe Leichter wurde am 20. August 1895 als Katharina Pick in eine Wiener jüdische Familie geboren. Aus ihrer Autobiografie, die Leichter1938 in der Gestapo-Haftzelle E125 in Wien verfasste und die posthum veröffentlicht wurde, erfahren wir über ihre Kindheit, ihre Überzeugungen und ihr politisches Erwachen. Sie war Wissenschaftlerin (sie erwirkte ihre Immatrikulation an der Wiener Universität gerichtlich; promovierte, weil in Wien dies Frauen nicht erlaubt war, in Heidelberg), Pionierin der Frauen- und Sozialpolitik und wurde als erste Frau in den Betriebsrat der Arbeiterkammer gewählt. Ab 1919 forschte sie als Mitarbeiterin Otto Bauers in der Staatskommission für Sozialisierung und als Konsulentin im Finanzministerium. Die Februarkämpfe 1934 in Österreich verbannten sie in die politische Illegalität und sie wurde Mitglied der Revolutionären Sozialist[:innen]. Jüdisch-Sein spielte für Leichter lange keine Rolle. Ihre Familie lebte säkular, religiöse Rituale praktizierte die Familie lediglich um die höchsten Feiertage. Früh spricht sich Leichter für die Rechte der Hausangestellten der Familie aus und lehnt sich gegen die elterliche Autorität auf.

Die Nationalsozialist:innen inhaftierten sie zunächst in der Gestapo-Haftzentrale in Wien, später im Konzentrationslager Ravensbrück und ermordeten sie schließlich 1942 im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms in der Psychiatrischen Anstalt Bernburg/Saale.

„Die Wohnverhältnisse der Heimarbeiter[:innen]“


Im März 1927 begann Käthe Leichter ihre Studie über die Lebensbedingungen von Heimarbeiter:innen. Sie versandte, was ein Novum war, 4.000 Fragebögen und erhielt eine nicht unbeachtliche Zahl von 1.000 für wissenschaftliche Zwecke verwendbare Exemplare zurück, was es Leichter ermöglichte, die bis dahin größte derartige Studie vorzulegen (S. 1–3). Sie beschäftigte sich intensiv mit dem umfangreichen quantitativen wie qualitativen Datenmaterial und konnte so wichtige Erkenntnisse über die berufliche Situation von arbeiteten Frauen (außerhalb der Industriearbeit) gewinnen.

Ein zentraler Schluss, den Leichter in ihrer Studie gewinnen konnte, war, dass Heimarbeit maßgeblich zur Verschlechterung der Wohnverhältnisse beitrug, da eben die Wohnungen auch als Produktionsräume dienten. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen leistete unter beengtesten Verhältnissen Produktionsarbeit in Heimarbeit. In den Wohnungen fertigten Arbeiter:innen, die keine andere Anstellung finden konnten, Schuhe, Kleidung und Handelswaren wie Zierdecken, Schachteln usw. und arbeiteten in Gruppen zusammen, um ihre Produkte an Händler zu verkaufen.

Ihre vielleicht wichtigste Erkenntnis war, „Heimarbeit ist Frauenarbeit“, denn vierundneunzig Prozent der Heimarbeiter:innen waren Frauen (S. 5).

Wohnraumverhältnisse

Zudem war es Leichter aber ein besonderes Anliegen zu betonen, dass ihre Ergebnisse zeigen, wie dringlich politisches Engagement für die wohnräumliche Besserstellung der Bevölkerung wäre. Sie fand in ihrer Studie heraus, „[…] dass die normale Wohnung der Heimarbeiter[:innen] die Wiener Proletarierwohnung ist, die aus Zimmer und Küche [also zwei kleinen Räumen] besteht“ (S. 43) Leichter betonte explizit die Problematik, dass sich Wohn- und Arbeitsraum überlagerten. In der klassischen Zimmer-Küche-Wohnung müsse der Raum neben der Küche „freilich alles: Schlaf-, Wohn- und Arbeitsraum sein.“ (S. 43) Drei-Zimmer-Wohnungen waren nur vereinzelt, am ehesten in der Wäscheerzeugung und Kleiderkonfektion zu finden.

„Um so häufiger sind die Fälle krassesten Wohnungselends. Heimarbeiterfamilien, die nur einen Raum, nur eine Küche bewohnen, deren Zuflucht ein Keller oder das Armenhaus ist, Heimarbeiterinnen[,] die ihrem Beruf als Untermieterinnen oder Bettgeherinnen nachgehen.“ (S. 44) Besonders tragisch erscheint, dass gerade unter den Bettgeher:innen viele als Heimarbeiter:innen ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften versuchten. Sie mussten entsprechend nicht nur zum Schlafen, sondern auch ein Bett als Produktionsraum mieten: „Die Zahl der Heimarbeiterinnen, die Untermieterinnen sind, ist besonders groß in der Stickereiindustrie, Bettgeherinnen, die tagsüber auf dem gemieteten Bett sitzend, ihre Heimarbeit ausführen, sind häufig unter den Schneiderinnen, Strickerinnen, und Filzschuhnäherinnen zu finden.“ (S. 44)

Käthe Leichters Anliegen, den Heimarbeiter:innen eine Stimme zu geben und deren soziale Ungleichheit zu überwinden, gelang ihr nicht nur damit, auf das enorme Wohnungselend hinzuweisen, sondern auch damit, dass sie die Lebensbedingungen in diesen Räumen der Allgemeinheit aufzuzeigen versuchte.

„Die Wohnungsverhältnisse werden in den einzelnen Zweigen der Heimarbeit noch verschärft durch die Begleitumstände der Erzeugung. In der Kleider- und Wäschekonfektion und der Strickwarenerzeugung erfüllen der Lärm der Näh- und Strickmaschine, Staub- und Wollfasern, in der Filzschuherzeugung Filzstaub, in der Papierkonfektion und chemischen Industrie der Geruch von Gummi und Klebstoffen, in der Lederwarenerzeugung der von Häuten und Leder die Luft. Bei allen liegt Material, das viel Raum verbraucht, umher […]“ (S. 46)

Heimarbeit ist Frauenarbeit


Dass die große Mehrheit der Heimarbeiter:innen Frauen waren, komme, Leichter folgend, nicht zuletzt daher, dass sich Frauen erhofften, mit dieser Berufswahl die Doppelbelastung bewerkstelligen zu können. In der Hoffnung, die Wohnräume der Familie gar nicht verlassen zu müssen und so auch die Kinder beaufsichtigen zu können, endeten viele Frauen in diesen ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.

„In diesen Wohnungen haben Frauen die hoffnungslose Aufgabe, neben ihrer Berufsarbeit den Haushalt in Ordnung zu halten – in der Regel noch schwerer, als wenn sie ihrer Arbeit außer Haus nachgehen würden –, den Kindern einen Winkel zum Spielen oder zum Lernen, ihre Nachtruhe zu sichern. Gerade was sich viele Frauen von der Heimarbeit erhoffen: Haushalt- und Mutterpflichten mit der Berufsarbeit leichter vereinigen zu können, wird durch die Enge der Wohnungen, die Vereinigung von Arbeits-, Schlaf- und Wohnräumen für Erwachsene wie für Kinder unmöglich gemacht.“ (S. 46)

Leichter belegt und untermauert diese Schlussfolgerungen mit penibel erhobenen und statistisch ausgewerteten wie didaktisch aufbereiteten Ergebnissen. Im gewählten Ausschnitt gibt sie Überblick über die Wohnraumverhältnisse innerhalb der einzelnen Berufszweige: Wie viele Menschen bewohnten wie große Wohnungen und welche Produktionsstärke kam diesen zu? Welche Unterschiede gab es zwischen den einfachen Arbeitskräften und den sogenannten Stückmeister:innen, die die Übergabe der Ware an die Kaufenden abwickelten?

Leichters Schlussfolgerungen

Leichter bemerkt in ihrer Studie kritisch zu den späten 1920er-Jahren, dass es erstaunlich erscheine, dass 1901 die Situation noch besser gewesen war und die Wohnverhältnisse weniger beengt. Deshalb schließt sie, „[e]rst die Betrachtung der Wohnverhältnisse vervollständigt das Bild der sozialen Verhältnisse, unter denen die Heimarbeiterinnen leben und arbeiten.“ (S. 46) Darüber hinaus erkannte Leichter in ihrer Betrachtung der Wohnverhältnisse der Arbeiter:innen aber auch, dass die Heimarbeit viele außerfamiliäre Begegnungen in vermeintlich privaten Wohnräumen ermöglichte. Obgleich religiöse Zugehörigkeit nicht das Erkenntnisinteresse ihrer Studie darstellte, zeigte sie, dass interethische Kontakte, unter anderem zwischen jüdischen wie nichtjüdischen Wiener Heimarbeiter:innen, zum Alltag gehörten.

Auswahlbibliografie


Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993.
Tim Corbett, Klaus Hödl, Caroline Kita, Susanne Korbel, Dirk Rupnow, Migration, Integration, and Assimilation: Reassessing Key Concepts in (Jewish) Austrian History, in Journal of Austrian Studies 54 (2021), S. 1–28.
Sylvia Hahn, Migrantinnen in Wien um 1900, in: Elisabeth Röhrlich (Hrsg.), Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, Wien 2016, S. 173–192.
Gabriella Hauch, (2006). Käthe Leichter (1895–1942), in: Francisca de Haan, Krassimira Daskalova, Anna Loutfi (Hrsg.), A Biographical Dictionary of Women's Movements and Feminisms, Budapest 2006, S. 286.
Klaus Hödl, Defying the Binay. Relationships between Jews and non-Jews, in: Journal of Jewish Identities 13 (2020), S. 107–124.
Susanne Korbel, Spaces of Gendered Jewish and Non-Jewish Encounters. Bed Lodgers, Domestic Workers, and Sex Workers in Vienna, 1900–1930, in: Leo Baeck Institute Yearbook 65 (2020), S. 88–104.
Herbert Steiner (Hrsg.), Käthe Leichter. Leben, Werk und Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin, Wien 1997, S. 14, Leichter über ihr „soziales Erwachen“ S. 292–294.

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Zur Autorin

Susanne Korbel ist Wissenschaftlerin am Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz und leitet das FWF Projekt „Entanglements of Jews and non-Jews in private spaces in Budapest and Vienna, 1900–1930” (FWF ESP120). Ihre Forschungsschwerpunkte sind jüdisch-nichtjüdische Beziehungen, Geschlechtergeschichte, Populärkultur und Migrationsgeschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Susanne Korbel, Wohnverhältnisse und Heimarbeit in Wien im frühen 20. Jahrhundert, in: Jüdische Text-Architekturen, 10.01.2025. <https://juedische-text-architekturen.online/beitrag/jta:article-6> [23.02.2025].

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