Die drei hier vorgestellten Auszüge stammen aus der ersten Ausgabe der Schülerzeitung des Jüdischen Landschulheims Herrlingen, „Herrlinger Leben: Blätter des jüd. Landschulheims Herrlingen bei Ulm a.D.“ Das Landschulheim war ursprünglich 1926 von Anna Essinger als fortschrittliche pädagogische Einrichtung gegründet worden. Nachdem sich Essinger Ende 1933 entschlossen hatte, ihre Schule gemeinsam mit einigen Schüler:innen nach England zu verlegen, übernahm der Pädagoge und Zionist Hugo Rosenthal das Landschulheim als Reaktion auf die Verfolgung und Verunsicherung der Jüdinnen und Juden unter dem nationalsozialistischen Regime. Sein Ziel war es, das Landschulheim zu einer spezifisch jüdischen Einrichtung zu machen, auch wenn in den ersten Jahren mehrere nichtjüdische Schüler:innen dort studierten. Herrlinger Leben war eine von zwei Schülerzeitungen, die zwischen 1934 und 1938 von der Schülerschaft selbst geschrieben wurden, die andere das spätere Chayenu [Unser Leben]. Beide Zeitungen berichteten über das tägliche Leben, die Ziele der Schule, wichtige Ereignisse, jüdische Feiertage und kulturell-religiöse Praktiken. Die Schülerzeitungen enthielten auch fiktive Geschichten und von der Schülerschaft erstellte Kunstwerke. Zusammengenommen bieten die Zeitungen einen relativ seltenen Einblick in die Gedanken und Erfahrungen der jüdischen Jugend im Deutschland der 1930er-Jahre. Die vier auszugsweise wiedergegebenen Seiten spiegeln drei verschiedene Texte und Stimmen wider. Auf der ersten Seite wird die Zeitung als kollektive Stimme der Schülerschaft vorgestellt. Ein kurzer Aufsatz, der die Beweggründe eines Schülers Der Verfasser oder die Verfasserin ist namentlich nicht bekannt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form verwendet. für den Besuch einer jüdischen Schule erläutert, findet sich auf der zweiten und dritten Seite. Der letzte Auszug stellt eine humoristische Zeichnung dar.
Die Schülerzeitung Herrlinger Leben, die von Kindern und Jugendlichen im Alter von elf bis sechzehn Jahren verfasst wurde, spiegelt ein interessantes Spannungsverhältnis wider: Einerseits bestätigen die Kinder die Ziele und Erwartungen der Erwachsenenwelt, andererseits bringen sie ihre eigene Perspektive zum Ausdruck. Auf der ersten Seite wird beispielsweise die Schule als neue Einrichtung vorgestellt und die Zeitung als kollektive Stimme der Schule dem Lesepublikum präsentiert. Der Tonfall des Textes ist von einem beträchtlichen Maß an Ernsthaftigkeit und sogar Resignation geprägt, das über das hinausgeht, was man von Kindern oder auch Jugendlichen erwarten würde. Der Verfasser schreibt von „dem Grau der Arbeit, der Pflicht, der Aufgabe...“, was auf eine große Verantwortung hinweist, die der Schüler in der Schule auf sich nimmt. Der Tonfall scheint auch darauf hinzudeuten, dass sich der Schüler der neuen, historisch einmaligen und schrecklichen Umstände, die ihn umgeben, bewusst ist.
Der Text wiederholt zumindest teilweise die offizielle Darstellung der Schule, indem er betont, dass sie darauf abzielte, ein geschützter Ort der Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung zu sein, wobei das Wort „Gemeinschaft“ nicht weniger als dreimal wiederholt wird. Aus anderen Quellen wissen wir, dass Hugo Rosenthal und andere Lehrkräfte des Landschulheims großen Wert auf die Rolle der Schule als Ort der Gemeinschaft für alle dort lebenden Kinder und Erwachsenen legten. Eine frühe Schulbroschüre zum Beispiel, die geschrieben wurde, um potenzielle Schüler:innen und Eltern über das Landschulheim zu informieren, und die wahrscheinlich von Rosenthal selbst verfasst wurde, formulierte die Ziele der Schule kurz und bündig: „Wir haben den Willen, jüdischen Kindern in dem kleinen Raum unserer Gemeinschaft eine Heimat zu schaffen, die ihnen den geistigen Boden bereitet, der für die Erziehung seelisch gesunder und lebenstüchtiger Menschen notwendig ist.“ Dementsprechend war die Schule ein physischer Raum, der die Entstehung und das Gedeihen einer Gemeinschaft ermöglichte, die sowohl ein Gefühl von Heimat als auch einen geistigen Boden für die Bildung der Kinder im weitesten Sinne bieten konnte. Die verschiedenen Programme an der Schule, insbesondere die Schülerzeitungen, sollten den Kindern und Jugendlichen ein Gefühl der Kontrolle über ihre Zukunft oder zumindest über ihre eigenen gegenwärtigen Bedingungen vermitteln.
Der zweite Text ist ein kurzer, anonymer Aufsatz mit dem Titel „warum bin ich in ein jüdisches landschulheim gegangen?”. Dieser Text ist ausschließlich in Kleinbuchstaben geschrieben. Obwohl es sich um die persönliche Erklärung eines jüdischen Schülers Der Verfasser oder die Verfasserin ist namentlich nicht bekannt. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form verwendet. handelt, warum er sich für den Besuch einer jüdischen Schule entschied, spiegelt der Text die Erfahrungen vieler jüdischer Kinder und Jugendlicher während der Zeit des Nationalsozialismus wider. Wie der Verfasser des Textes erkennt, war seine eigene Erfahrung fast universell für alle jüdischen Schüler:innen: „so ging es fast jedem jüdischen schüler.“ Der Autor, der das Scheitern der jüdischen Integration und Akkulturation als Folge des nationalsozialistischen Antisemitismus und der damit einhergehenden geistigen und psychischen Not beschreibt, erzählt zunächst von dem Wunsch, während der Weimarer Zeit von einer jüdischen Schule auf eine staatliche Schule zu wechseln, in dem Glauben, dadurch „deutscher“ zu werden. Der Verfasser erzählt dann, wie die eigene Weltanschauung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten auf den Kopf gestellt wurde, der in dem Artikel nicht namentlich erwähnt wird, sondern durch einen Verweis auf das Frühjahr 1933 (die Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme oder ,Gleichschaltung‘). Der Schüler erinnert sich an die von einem Lehrer initiierte Ausgrenzung und das daraus resultierende und anhaltende Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Wie viele andere jüdische Schüler:innen und ihre Eltern hoffte der Verfasser auf eine jüdische Schule wechseln zu können, die eine Gemeinschaft und eine Antwort auf existenzielle Fragen bieten könne. Der Schüler fragt ergreifend (und rhetorisch): „was aber können wir tun, um wieder freie und aufrechte menschen zu werden, was tun, um zu verhüten, dass die lehre von der minderwertigkeit unserer rasse sich nicht auch in unsere hirne einfrisst?“ Und liefert darauf gleich eine Antwort: „wir müssen wieder mit dem judentum verwachsen! wir müssen lernen, dass jude-sein ein stolz und nicht mit minderwertigkeit identisch ist.“ Dies war eine Botschaft, die Rosenthal und andere Lehrer der Schule auch an anderer Stelle zum Ausdruck bringen wollten. So schrieb der Lehrer Kurt Bergel: „Stolz auf unser Judentum – kein sturer Chauvinismus, sondern ein Stolz, der auf Kenntnis und Erlebnis gegründet war – war uns der Weg zur seelischen Gesundheit unserer Kinder, die in der Atmosphäre des erzwungenen Ghettos bedroht war.“ Zu diesem Zweck machte Rosenthal es zu einem zentralen Ziel, den Stolz der Schüler:innen auf das Judentum und ihr Wissen darüber zu vergrößern. Wie er in seinem Bericht für das Schuljahr 1935/1936 erläuterte, organisierte er alle Aktivitäten im Rahmen der „religiösen Gemeinschaftserziehung“. Sowohl der Lehrplan als auch die außerschulischen Aktivitäten, wie das gemeinsame Feiern der jüdischen Feiertage und des Schabbats, sollten dazu beitragen, die Schüler:innen stolz auf ihr jüdisches Erbe zu machen und sie über religiöse und kulturelle Begriffe aufzuklären, um sie zu „kulturbewussten Gliedern der jüdischen Gemeinschaft“ werden zu lassen. In gewisser Weise können wir also in den ersten beiden Texten des Herrlinger Leben sehen, dass die Schüler:innen ihre Handlungsfähigkeit zum Ausdruck brachten, indem sie sich an der Wiederholung und Übernahme der offiziellen Ziele und Erzählungen der Schule beteiligten. Die Schülerzeitung diente jedoch nicht nur als Sprachrohr für die offiziellen Ziele der Schule, sondern gab auch einer Kinderperspektive eine Stimme: einer Perspektive, die regelmäßig Ehrfurcht und oft auch Belustigung über die neuen Umstände zum Ausdruck brachte, wodurch die Botschaften der Erwachsenenwelt, wenn nicht untergraben, dann zumindest zum Gegenstand spielerischer Auseinandersetzung wurden.
Die geografische Lage der Schule im ländlichen Schwaben – in den meisten Fällen sowohl kulturell als auch physisch weit entfernt von den städtischen Umgebungen, in denen die Kinder geboren und aufgewachsen waren (z. B. Köln, Berlin und München) – diente als Quelle erheblicher Belustigung. Der lokale Dialekt, die andere Kleidung und die vielen Bauernhoftiere waren regelmäßig Gegenstand von Witzen in der Zeitung, von spielerischen Fotos, die die Kinder in der Schule machten, und sogar Inspiration für Kostüme zu Purim. Der dritte Auszug, ein von Hand gezeichnetes Bild von zwei schwäbischen Bauern im Dialog, bringt die Belustigung der Kinder über die lokale Mundart und Kleidung zum Ausdruck. Obwohl die Karikatur sowohl die Andersartigkeit der Kleidung als auch der Sprache der imaginären schwäbischen Bauern hervorhebt, zeigt sie auch eine Vertrautheit mit den lokalen kulturellen und sprachlichen Gepflogenheiten und deutet darauf hin, dass die Kinder zumindest beiläufig mit anderen Bewohner:innen der Gegend interagierten. . Damit untergräbt der junge Künstler-Autor der Karikatur den ernsten Tonfall des Heimatdiskurses – ein Diskurs, der nicht nur in der deutschen Gesellschaft üblich war, sondern auch in der Schule immer wieder thematisiert wurde, wo sowohl Heimatkunde als auch über die jüdische Heimstätte und zionistische Bestrebungen regelmäßig unterrichtet wurde. Der ernsthafte Wunsch nach Zugehörigkeit, der im zweiten Text mit viel Pathos geäußert wird, wird durch den Versuch des Künstlers, den lokalen Dialekt zu imitieren, gleichzeitig bestätigt und als exotisch verspottet. Darüber hinaus macht sich der Künstler über eine potenzielle Quelle deutscher, nationalistischer Zugehörigkeit lustig, indem er den Sprechern jede sinnvolle Botschaft vorenthält; der Dialog der Figuren ist sinnlos und endet damit, dass sich die beiden fast unmittelbar nach ihrer Begegnung voneinander verabschieden.
Die Geschichte der Juden in Deutschland, zumindest in der Neuzeit, ist fast gleichbedeutend mit Großstädten wie Frankfurt, Hamburg und vor allem Berlin. Doch auch ländliche und provinzielle Orte spielten bis in die 1930er-Jahre hinein eine wichtige Rolle für Jüdinnen und Juden, sowohl als reale als auch als imaginäre Räume. Im Fall des Jüdischen Landschulheims in Herrlingen fungierte die Schule im ländlichen Schwaben als physischer Ort, der jüdische Kinder unterrichtete, sie auf die Emigration vorbereitete und ihnen festen Boden unter den Füßen bot, was vielen half, mit den tiefgreifenden psychologischen Herausforderungen umzugehen, die mit der schrecklichen antisemitischen Verfolgung einhergingen, der sie und ihre Familien unter den Nationalsozialisten ausgesetzt waren. Die Kinder nahmen auch regelmäßig an Kursen und Aktivitäten teil, die darauf abzielten, ihr Wissen über das Judentum und ihre Zugehörigkeit zum Judentum zu stärken, Aktivitäten, die ein positives Selbstwertgefühl als Juden und Jüdinnen fördern sollten. Die grundlegende Bedeutung der ausgewählten Texte ergibt sich schließlich aus der Tatsache, dass er das Ergebnis der eigenen Ideen und Bemühungen der Schüler:innen war. Obwohl sich die Erzählungen der Erwachsenenwelt in dem Text ausdrücklich widerspiegeln und wiederholen, wird auch die Perspektive der Kinder deutlich. Durch die Zeitung konnten die verschiedenen Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Reaktionen auf die sich entfaltende Tragödie, die sie umgab, verhandeln und manchmal auch Momente finden, in denen sie Ideale in Frage stellten, die den Erwachsenen so sehr am Herzen lagen.
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Dr. Sarah Wobick-Segev ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Philosophie und Religion an der Universität Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Kulturgeschichte des modernen europäischen Judentums mit besonderem Interesse an der Geschichte und den Erfahrungen von bisher wenig erforschten Akteur:innen, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen.
Sarah Wobick-Segev, Zwischen den Erwartungen der Erwachsenen und dem Spiel der Kinder, in: Jüdische Text-Architekturen. <https://juedische-text-architekturen.online/beitrag/jta:article-2> [23.02.2025].